Vortrag am 4.5.2018 in Köln
7 Jahre Nepal! Psychotherapeutisches Arbeiten in Nepal.
Vor 29 Jahren habe ich Nepal erstmals besucht. 1993 schrieb ich meine Diplomarbeit in Nepal. Ich wurde deshalb beim Deutschlandbesuch des damaligen Premierministers KOIRALA zum Empfang in der Bonner Redoute eingeladen. Als er sich bei mir für meine geleistete Arbeit für sein Land bedankte, sagte mein damaliger Professor, dass er glaube, dass Nepal noch eine große Bedeutung für mein Leben haben wird. Ich wusste damals noch nicht wie recht er haben sollte.
Ich liebe Nepal wie ein guter Sohn seinen Vater liebt. Meine Dankbarkeit für das, was Nepal meinem Leben gegeben hat, ist so groß, dass ich diese Dankbarkeit in Worten nicht ausdrücken kann. Das klingt pathetisch, ist jedoch trotzdem wahr. Als ich in Kathmandu anfing meine Flyer zu verteilen und mich bekanntzumachen, hörte ich oft Sätze wie: Und du glaubst wirklich da kommt jemand? Dabei blickten mich die meisten sehr mitleidig an. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es noch keinen Psychotherapeuten in einer selbstständigen Praxis.
Ja, die Patienten kamen. So, dass ich bereits vier Wochen nach Eröffnung meiner Tätigkeit voll belegt war und so blieb es bis zu meinem Wegzug sieben Jahre später. Ich arbeitete in meiner eigenen psychotherapeutischen Praxis, in vier verschiedenen Krankenhäusern und in drei verschiedenen Kinderheim gleichzeitig. Dabei arbeitete ich mit Patienten aus 35 verschiedenen Ländern, aus fünf verschiedenen Religionen, aus fünf Kontinenten. Der jüngste Patient war drei Jahre alt, der älteste 80 Jahre. Es kamen Patienten aus allen sozialen Schichten. Kinder, die auf der Straße aufwuchsen, die Verkäuferinnen, die Büroangestellten, Patienten aus der Oberschicht, Politiker und auch wohlhabende Geschäftsleute und ausländische Experten. Da waren Armeeangehörige, da waren Maoisten, die als Kinder als Kindersoldaten gekämpft hatten. Es kamen Patienten mit allen möglichen Störungsbildern, Eheproblemen und Persönlichkeitsentwicklung. Zusätzlich gab ich noch Fortbildungsseminare bei verschiedenen NGOs und Supervision. Ich bin sehr dankbar für all das Vertrauen, das mir von meinen Patienten entgegengebracht wurde
Was mir wichtig ist habe ich hier zusammengetragen: was ich gelernt habe ist, wie wichtig ein vertrauensvolles Setting ist. Das sollte man überhaupt nicht unterschätzen. Ich habe den Eindruck erhalten, dass die Menschen in Nepal sehr wohl bereit sind Psychotherapie in Anspruch zu nehmen. Sie haben jedoch eine große Angst zu einem Therapeuten zu gehen. Sie haben Angst, dass die Schweigepflicht nicht erfüllt wird. Sie haben Angst wegen ihrer Probleme ausgelacht zu werden. Ich habe oft gehört, dass Patienten sagten: der Therapeut werde meine Probleme weitererzählen und ich werde ausgelacht, wenn ich zum Beispiel einen Waschzwang habe. Deshalb war es am Anfang der Therapie sehr wichtig zu versichern, dass der Therapieraum ein Schutzraum ist und dass es keiner sieht wer in meiner Praxis hinein kommt oder hinausgeht. Die wichtigsten therapeutischen Instrumente waren manchmal die zugezogenen Gardinen im Therapiezimmer, weil ansonsten die Patienten einen Panikanfall bekamen. Sie hatten Angst, dass sie von draußen jemand erkennen konnte.
Eine weitere Schwierigkeit war eine Anamnese zu erstellen. Fragte ich zum Beispiel in Nepal eine Erzieherin im Kinderheim über die Vergangenheit eines Bewohners, so hörte ich oft sehr unterschiedliche Meinungen über dieses Verhalten und Diagnosen. So erzählte eine Erzieherin mir als ich nach der Mutter fragte, dass die Mutter schizophren sei. Die Mutter sei abends alleine spazieren gegangen und habe dabei gesungen und nicht so viel mit den Dorfbewohnern gesprochen und das sei ja schizophren, das sei ja verrückt. So konnte man sich eigentlich auf bestimmte Informationen nicht verlassen, sondern als unbestätigte Gerüchte verwerfen.
Ich kann aus meiner Sicht als Psychotherapeut und sieben Jahren therapeutischer Arbeit in Nepal nicht die Ansicht vertreten, dass in Nepal alles so rund läuft. Ein ganz großes Problem in Nepal ist die hohe Anzahl von Suiziden. Nepal steht weltweit an neunter Stelle der vollendeten Suizide. 24 Personen von 100.000 verüben Suizid in Nepal. Im Vergleich zu Deutschland verüben zwölf Personen von 100.000 Suizid. Erstaunlich an dieser Zahl ist, dass weltweit sich mehr Männer umbringen während in Nepal Frauen mehr Suizide verüben (20 von 100.000).
Ich könnte ihnen jetzt auch viele Statistiken und Zahlen nennen. Mir ist es jedoch viel wichtiger Ihnen das Leid der Jugendlichen in Nepal näherzubringen. Und wir sollten das Leid auch nicht ignorieren. Ich war schockiert als ich in Kathmandu Jugendliche in einer Schlange sah die vom Rana Park bis zum Stadion führte, also ungefähr 3-4 km. Die zahlreichen Jugendlichen standen zwei Tage lang in der Monsunhitze für ein Bewerbungsformular in Südkorea an. Sie wollten alle das Land verlassen. Aber noch schlimmer war es zu sehen, wenn Jugendliche kamen und sich umbringen wollten. Besonders in Godavarie haben sich in kurzer Zeit 15 Jugendliche das Leben genommen. Eines Tages hörte ich zum Beispiel, dass ein 15-jähriges Mädchen sich das Leben genommen hatte. Am nächsten Tag fuhr ich wieder nach Godavarie und hörte, dass sich nun auch ihr 16-jähriger Freund umgebracht hatte. Was war passiert? Das junge Paar hatte eine Beziehung und wollten heiraten. Die Eltern lehnten diese Heirat ab, sodass Jugendlichen keinen anderen Ausweg sahen als sich das Leben zu nehmen. Ich habe sehr viele Jugendliche erlebt die in schweren Krisen waren. Ich werde nie ein 15-jähriges Mädchen vergessen das zu mir kam und unter schweren Depressionen litt. Ich habe noch nie in meinen Leben einen Menschen gesehen, der so klar war sich das Leben zu nehmen. Ich bin zwei Wochen lang jeden Tag zu ihr nach Hause und habe mit den Eltern nach Lösungen gesucht. Und wir haben miteinander gerungen, weil wir wussten, wenn wir keine Lösung finden würden, würde dieses junge Mädchen freiwillig aus dem Leben gehen. Nach zwei Wochen täglicher härtester Arbeit sagte mir das Mädchen: Franz-Josef, wenn du nicht in Leben getreten wär‘s denn hätte ich mich umgebracht“. Erst dann wusste ich, dass Sie tatsächlich über dem Berg ist. Weswegen sage ich das? Weil es nur ein Beispiel dafür ist wie viele Jugendliche in Nepal nach Lösung und Hilfe suchen und keine Antworten finden. Nachdem es diesem Mädchen wieder besser ging, hat sich das in ihrer Umgebung herumgesprochen und es kamen noch viele weitere Jugendliche mir der Bitte zu mir, auch ihnen aus einer aussichtslosen Lage zu helfen und sie dabei zu unterstützen, etwas in ihrem Leben zu verändern. Im Moment habe ich den Eindruck, dass die Jugendlichen nur die Wahl haben tatsächlich das Land zu verlassen oder den Weg in die Depression zugehen.
Ein weiteres bedeutsames Problem ist in Nepal die Störung des Sozialverhaltens. Dazu gehört aggressives Verhalten, starke Verweigerung von Anforderungen und keine Ziele im Leben zu haben. Ich habe in Nepal mit einer Gruppe von zehn Jugendlichen eine Gruppenpsychotherapie durchgeführt. Die jungen Heranwachsenden lebten in einem Heim und sollten langsam an die Eigenständigkeit eines eigenen Haushalts herangeführt werden. In der ersten Sitzung wurde sehr schnell deutlich, wie viel Ängste bei den Jugendlichen bestehen, die Herausforderungen eines eigenständiges Leben in Nepal anzunehmen. Sie wollten daher so lange wie möglich in der Einrichtung leben. Daher war es notwendig die Ressourcen der Jugendlichen zu stärken damit sie den Mut finden, den vielfältigen Herausforderungen Nepal gerecht zu werden.
Aus therapeutischen Gründen wurde die Therapiesitzungen samstags morgens um 7:00 Uhr durchgeführt. Eines Morgens war um 7:00 Uhr noch keiner von Jugendlichen in dem Gruppenraum des Heimes. Ich wartete 15 Minuten, doch niemand erschien. Was sollte ich tun? Sollte ich weiter warten? In vielen NGOs in Nepal ist es üblich den Personen einer Fortbildung Gelder für die Teilnahme zu bieten. Sollte ich also den Teilnehmern auch Geld dafür bieten, dass sie eine Fortbildung oder eine Therapie erhalten? Ich halte das für Unfug und wollte dies nie erwägen. Was sollte ich also tun? Ich entschied mich dafür, auf meinem Motoroller aufzusteigen und nach Hause zu fahren. 20 Minuten nachdem ich zu Hause war rief mich ein Jugendlicher der Einrichtung an und entschuldigte sich, es sei Winter und es sei so kalt gewesen, dass sie nicht aus dem Bett kommen konnten. Ich antwortete: „wenn ich es schaffe morgens um 5:00 Uhr in der Kälte mit meinem Motorrad 40 Minuten zu euch zu fahren, dann schafft ihr es auch um 7:00 Uhr pünktlich im Gruppenraum zu sein. In der nächsten Sitzung waren alle Jugendliche um 7:00 Uhr anwesend und wir haben die Gruppe weitere vier Jahre fortgesetzt. All die Jugendliche haben ihre Ziele erreicht die sie sich in dieser Zeit vorgenommen hatten. So ist es wichtig nach der Devise zu handeln: fordern und fördern. Dabei ist wichtig den Jugendlichen die Erfahrung von Selbstwirksamkeit in ihrem Leben zu geben, so dass sie Einfluss auf ihr Leben und auf die Ziele in ihrem Leben haben.
Ein weiteres großes Problem in Nepal ist, dass immer mehr Leute soziale Ängste entwickeln und ein vollständiger sozialer Rückzug stattfindet. Ich habe viele Patienten gehabt die teilweise seit zehn Jahren das Haus ihrer Familie nicht mehr verlassen haben. Selbst als die Schwester im Haus Hochzeit feierte kann der Patient nicht aus dem Haus heraus. Für die Eltern ist das eine sehr starke psychische Belastung. Sie müssen sehen, dass sie älter werden und das Kind möglicherweise völlig isoliert nach ihrem Tod zurückgelassen wird.
Zum Abschluss meines kurzen Vortrages möchte ich noch eine Gegebenheit erwähnen die mich stark in meiner therapeutischen Arbeit berührte. Eine ca. 30-jährige Frau, die unter starken Depressionen litt, kam zu mir in meine Praxis. Sie war Moslemin. Eines Tages sagte sie, sie habe in der Zeitung gelesen das in Deutschland 20.000 Menschen gegen den Islam auf die Straße gehen würden. Ihr Mann hätte gesagt, der Herr Koch ist Deutscher und wenn die Deutschen etwas gegen die Moslems hätten dann soll sie nicht mehr zu mir kommen. Sie sagte zu ihrem Mann daraufhin“ Nein, der Herr Koch ist schon o. k. Er denkt nicht so. Aber dann sagte sie “ ich würde trotzdem gerne wissen wie sie darüber denken“. Ich antwortete:“ ja das stimmt. In Dresden gehen 20.000 Menschen auf die Straße um gegen Ausländer und gegen den Islam zu demonstrieren. Aber das zählt nicht. In anderen Städten wie z.B. in Bonn, Köln, Düsseldorf, Frankfurt, München, usw. gehen tausende Menschen für die Ausländer auf die Straßen und sagen „bitte lieber Ausländer lassen uns mit diesen Deutschen nicht allein“. Ob sie davon gehört hätte? Sie war sehr erstaunt und antwortete:“ Nein davon hätte sie nie etwas gehört und ein wenig empört fragte sie warum denn die Zeitungen nicht darüber schreiben würden“. Ihre Stimme wurde leise, sie weinte und sagte mit ganz leise, sanfter Stimme, die entscheidenden Sätze:“ Herr Koch, ich denke ja nur, dass es doch so wichtig ist“ Zeichen von Wertschätzung, Liebe und Achtung immer wieder zu publizieren. Das hilft uns doch in diesem Hass zu überleben…“
Ja, das hilft uns in diesem Hass zu überleben. 48 Stunden später kam das schwere Erdbeben und im darauffolgende Chaos habe ich diese tapfere Frau nie wiedergesehen. Doch ihren Wunsch “Zeichen von Wertschätzung, Liebe und Achtung“ zu publizieren habe ich nicht vergessen.
Franz-Josef Koch